Samstag, 10. Dezember 2016

Vernunft

Ich hätte es nicht für möglich gehalten: Aber ich sehne mich nach dem Mittelalter.
Natürlich nicht nach dem Mittelalter mit Pest, Schmutz, Armut und Krieg. Schon gar nicht nach dem Fernseh- und Kinomittelalter.
Und auch nicht nach dem Mittelalter-Popanz der selbstverliebten "Aufklärung".
Auch nicht das Mittelalter der Romantik und der Gothic Novel.
Sondern nach dem Mittelalter, das Mittelalter, das einen Kontinent im Innern entdeckte, das die Vernunft liebte und in ihr das Göttliche im Menschen sah.

Kann man die Würde des Menschen höher ansetzen?

Die Vernunft war die Plattform der öffentlichen Diskurses: Logik, Dialektik, Rhetorik. Anstatt: Emotion, Apodiktik und PR. Das Gespräch des Intellekts mit sich selber, ungebrochen. Und als solches schon "religiös", heute würde man sagen: "spirituell". Gott war noch ein Argument, das aber "bewiesen" sein wollte in seiner argumentativen Kraft. Nicht als Lückenfüller, sondern als Basis. Glaube war nicht Widerpart des Wissens, sondern sein Anderes.
Die ratio war warm. 
Vergangen. Vorbei. Und jetzt: Kalte Ratio auf der einen Seite, unverankerte Gefühle auf der anderen. Sie halten einnander nicht mehr im Schach, sie kämpfen gegeneinander. Ein Kampf, den die Ratio verlieren muss. Und verliert.
Ich hätte es nicht für möglich gehalten, dass ich einmal über der Summa des Thomas von Aquin oder über den Texten von Al Ghazali sitze und Sehnsucht spüre.
Es ist Abendland-Schmerz.
So etwas wie der Schmerz über die vergangene Jugend. Das Abendland ist traurig geworden. Und weil es seine Trauer nicht als Trauer zulässt, wird es wieder aggressiv. Und weil die ratio verliert, wird die Aggression ungezügelt. Sie ist inzwischen der Exportartikel Nummer eins. Die Furcht vor dem Fremden ist nichts anderes, als die Furcht vor dem Anderen des Eigenen: Ein Blick auf das Bildnis des Dorian Grey.